Der Herr der Kabel
01. Juni 2019
Seit Anbeginn des Jahres fürchten wir Männer diesen Tag, der unaufhaltsam auf uns zu kommt. Der Tag, der in uns Angst und Schrecken verbreitet. Es ist Frühling und das Traben der schwarzen Reiter, ist bereits spürbar. Und damit meine ich Heidi, die ab Anfang März gelegentlich Sätze in unseren Alltag einbaut wie: „Schatz, wann hast Du mal wieder einen ganzen Tag frei?“ Es wäre grob fahrlässig, Ihr jetzt einen Tag zu nennen. Jedoch gibt es kein Entkommen. Sie wird zuschlagen. Irgendwann, wenn du es nicht vermutest. Mit deinem Blaumann bekleidet wird Sie früh morgens mit einem Kaffee in der Hand, während du noch döst, vor dir stehen und sanft ins Ohr flüstern: „Mein Schatz, heute machen wir Frühjahrsputz.“ Wir wissen, dass der Frühjahrsputz nichts mit dem eigentlichen Putzen zu tun hat. Es ist vielmehr die Frühjahrs-Zwangs-Entrümpelung, die meine Partnerschaft jedes Jahr in ein „Herr der Ringe“ Epos verwandelt. Die Entrümpelungseuphorie von meiner Frau ist in diesem Jahr so groß, dass ich den Wertstoffhof an diesem Tag öfters besuche. Ich bin mit den Mitarbeitern mittlerweile sogar per Du. Ich merke, dass ich hier nicht alleine bin. Gleichgesinnte reihen Ihre Autos neben meinen Combi und ich komme mit Tom ins Gespräch, dem ich beim Entsorgen einer alten Küchenarbeitsplatte helfe. „Die ist doch noch gut.“ Sage ich zu Ihm. „Ja, finde ich auch, liegt aber seit 12 Jahren im Keller und meine Frau hat Sie gefunden, obwohl ich Sie hinter den Autoreifen meines alten Opel Kadetts versteckt hatte.“ Sagt Tom. Wie eine dunkle Vorahnung spüre ich den Drang ganz schnell nach Hause fahren zu müssen. Ich kann mich auf mein Bauchgefühl verlassen, denn zu Hause angekommen, sehe ich Heidi, wie sie stolz aus dem Keller kommt. In Ihren Händen der Ring, der heilige Gral, die Büchse der Pandora: Meine Kabelkiste. Die Kabelkiste des Mannes ist wie ein Tagebuch aus dem Man(n) die gesamte Geschichte der Elektronik der letzten 30 Jahre nachlesen kann. USB Kabel, Ladekabel, Netzkabel, Boxenkabel und Kabel, dessen Namen ich nicht mal kenne, haben über Jahre in dieser Kiste ein zu Hause gefunden. Diese zu sortieren, geschweige denn zu entsorgen, ist unter Partnern als moderne Foltermethode weit verbreitet.
Heidi zieht mit einem fragenden Blick ein Scartkabel aus der Kiste. Ich: „Wir könnten den alten Videorecorder wieder anschließen.“ Darauf Sie: „Den haben wir vor 6 Jahren weggeschmissen.“ Bevor ich den Vorschlag bringe, einen Neuen zu kaufen, kommt das alte Ladekabel für mein Nokia 3310 zum Vorschein. „Das passt bestimmt auch bei irgendeinem anderen Handy.“ Sage ich „Das Du nicht besitzt.“ erwidert Heidi mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich merke, wie ich nach und nach zu Gollum aus „Herr der Ringe“ mutiere. „Aber das Kabel ist doch kaputt.“ Meint meine Frau „Das kann ich doch löten.“ Sage ich und notiere gleichzeitig in meinem Kopf, dass ich heute noch in den Baumarkt fahren muss, um mir einen Lötkolben zu kaufen. Heidi steht nun schon am Abgrund der Schicksalsbergs, bereit meinen Schatz zu opfern. Doch ich versuche es weiter: „Wir könnten das Kupfer verkaufen.“ Ich merke, dass dieses Argument auch in diesem Jahr nicht ziehen wird. Ich reiße meine Kabelkiste an mich und höre mich sagen: „Wir wollen ihn! Wir brauchen ihn! Wir müssen ihn haben, den Schatz!“ Heidi gibt auf und geht nach oben. Ich betrachte mit weit geöffneten Augen meine Kabelkiste und überlege mir ein neues, besseres Versteck für nächstes Jahr. Wenn die Schwarzen Reiter wieder auf der Suche nach meinem Schatz sein werden.