Jedes neugeborene Kind wird früher oder später mit Sätzen bombardiert wie: „Das Kinn ist eindeutige die Mama, aber die Nase hat er vom Papa.“ Ich weiß nicht was bei mir schiefläuft, denn ich sehe nie irgendwelche Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Neugeborenem. Und meist verliert ein Kind schnell genug die äußerlichen Merkmale von Mama oder Papa. Und das ist gut so. Als junger Mann ist es das Letzte, was man hören will, dass man seinem Vater ähnlich ist. Doch wie so oft gibt dir das reale Leben einen Dämpfer und zeigt dir früher als erwartet, dass dein Schöpfer ganz tief in Dir wohnt. Die Vatermorphose ist eine unaufhaltsame Verwandlung, die schleichend und unerbittlich zeigt, von wem du abstammst. Genau jetzt wären solche Sätze, die man über Neugeborene sagt, besser angebracht: „Den Schwimmring über der Hüfte hast Du von Deinem Papa.“ „Die große Nase ist eindeutig eine Schnitzer Nase.“ „Du läufst wie dein Vatter.“ Und es ist wahr. Mit zunehmendem Alter beobachte ich an mir, wie ich nach und nach meinem Vater ähnlich werde. Nicht nur die einzelnen Körperteile gleichen sich an. Es sind die Verhaltensweisen, die mein Papa unbeabsichtigt in einem versteckten Teil meines Systems eingepflanzt hat, und die trotz pubertärer Verdrängung nach und nach in meinem Alltag auftauchen. Zum Beispiel kaufe ich mir, wenn mir ein Hemd perfekt passt, gleich mehrere davon in verschiedenen Farben. Ich lasse am Abend auch meine Hemden angezogen und wechsle nur die Hose. So sitze ich, wie mein Vater damals, als er von der Arbeit nach Hause kam, in Jogginghose und Businesshemd auf dem Sofa. Ohne Stil aber bequem. Ich ertappe mich, wie ich gewisse Rituale entwickle, wie das Lösen von Sudokus oder Kreuzworträtseln beim morgentlichen Toilettengang. Beim Kauf von Unterhosen achte nicht mehr darauf, wie ich damit aussehe, sondern wie bequem sie auf meiner Haut liegen. Neulich fiel Heidi auf, dass mein Vater und ich den gleichen Schnäuzton haben. Wenn wir also in ein Taschentuch schnäuzen – wir benutzen beide Stofftaschentücher – tun wir das meist mit Überdruck und es erklingt ein elefantenartiges Tröten, das sich sehr ähnlich ist. Doch es gibt noch mehr Verhaltensweisen, die auf eine Vatermorphose hindeuten. Beim Verlassen des Hauses gehe ich immer noch einmal zurück. Entweder um nach dem Herd zu schauen oder weil ich etwas vergessen habe. Auf längeren Autofahrten erzähle ich Heidi an bestimmten Stellen immer dieselben Geschichten. Wenn ich mal eine Zeitung im Briefkasten habe, lese ich sie auch wirklich und mache ganz unbewusst das, was ich an meinen Eltern als Kind gehasst habe. Ich lecke mir den Zeigefinger ab zum Umblättern.
Es mag sein, dass viele dieser Dinge dem Alter geschuldet sind. Jedoch ist eine viel schönere und romantischere Vorstellung, dass sich mein Papa ein Stück weit in mir verewigt hat. Dass ein Teil von ihm in mir lebt. Und damit meine ich nicht seine Gene, sondern sein Wesen, das ich immer mit mir führen werde. Mal mehr, mal weniger.